Auf nach Porto Allegre

Kaum sind Isabel und Ellie da, wollen wir auch etwas die Gegend erkunden und testen unsere flotten Reise-Klappräder. Die erste Ausfahrt bezahle ich mit einem blutigen Ellenbogen. Als mir meine Gepäcktasche verrutscht, verreiße ich den Fahrradlenker und mache einen klassischen Flachköpfer auf die staubige Dorfpiste. Ein rechter Mann braucht Narben und so stört uns dieses Mißgeschick nicht weiter bei unseren Reisevorbereitungen. Wir organisieren unsere sieben Sachen für die erste kleine Rundreise in Brasilien. Doch das Ziel steht noch gar nicht genau fest. Abhängig vom Spiel der Deutschen gegen die USA, fahren wir nach Porto Allegre (als Gruppenerster) oder nach Salvador (als Gruppenzweiter). Jogi und sein Team tun uns den Gefallen und besiegen die USA. Jetzt warten "nur" etwa 700km Fahrt nach Süden auf uns. Das Spiel gegen die Amerikaner schauen wir übrigens wieder beim Public Viewing im Dorf-Cafe und wieder ist das brasilianische Fernsehen dabei. Im neuen Beitrag (siehe globo.tv) sind wir übrigens deutlich besser zu sehen als bei der Portugal-Variante (sogar Ellie ist kurz im Bericht zu erkennen).

Dei Fahrt Richtung Süden ist etwas zäh und das Wetter alles andere als angenehm. Im menschenleeren Zeltplatz von Gramado weist uns der Wächter den einzigen Platz zu von dem er ausgeht, dass wir ohne im Matsch zu versinken, auch wieder selbstständig ausfahren können. Gramado selbst, knapp 100km nördlich von Porto Allegre gelegen, ist eine etwas kitschige MIschung aus Alpendorf und Disneyland. Dabei durchaus sehenswert, versehen mit einem sehr schönen Umland und diversen Attraktionen wie der (laut Aussagen Einheimischer) ersten Indoor-Skibahn in Südamerika. Wir besuchen den Naturpark Caracol mit dem 130m hohen Wasserfall und lernen im Ort Martha und Carlos kennen, mit denen wir uns für Montag, dem Tag des Achtelfinalspieles gegen Algerien verabreden. Tatsächlich haben die Beiden für Montag frei genommen und erwarten uns in der Nähe von Gravatai. Carlos erklärt sich bereit für uns den Lotsen zu machen und mir mit seinem Fahrzeug den Weg Richtung FIFA-Ticketschalter zu weisen. Der Verkehr in der Millionenstadt Porto Allegre ist am Anfang erstaunlich angenehm, was damit zusammenhängt, dass zur Vermeidung eines Verkehrschaos an allen WM-Spieltagen in der Stadt das öffentliche Leben eingeschränkt ist (so haben beispielsweise alle Hochschulen WM-frei). So weit so gut. Doch das Problem fängt an als wir uns dem Stadionbereich nähern. Dieser ist schon früh am Morgen weiträumig abgesperrt. Im Schneckentempo bewegen wie uns durch verstopfte Straßen. Um den Kontakt zu Carlos nicht abreißen zu lassen, ignoriere ich rote Ampeln im Paket. Auch Carlos verliert etwas den Überblick, ungewollt befinden wir uns in einem Viertel, das selten Fahrzeuge und noch seltener Touristen sieht. Bei Tag ist das kein Problem, doch hier wollte ich mich nachts nicht wiederfinden. Nach mehrmaligem Fragen, erreichen wir dann tatsächlich den Shopping-Center mit dem FIFA-Ticketschalter, der sich etwa 2km südlich des Stadions befindet.

Wir verabschieden uns temporär von Martha und Carlos, beantworten die Fragen vieler Fans, die sich über das deutsche Fahrzeug wundern und machen uns stadionfertig. Kurz darauf sind wir auf dem Weg Richtung Estadio Beira Rio und wiederum kurz danach in der deutschen Fankurve. Es lässt sich trefflich streiten, ob es Sinn macht ein dreijähriges Kind in ein WM-Stadion zu schleppen, aber in Ermangelung eines Kinderhorts bleibt uns nichts anderes übrig. Und Ellie fühlt sich erstaunlich wohl. Mit großen Augen und lärmgeschützt durch ihre Ohrschützer verfolgt sie das wilde Geschehen. 90min erträgt sie das Fußballtheater mit stoischer Ruhe, dann wird es ihr doch etwas zu viel. Eine Verlängerung wäre nicht notwendig gewesen. Ich mache mich schnell auf den Weg um die Stimmung zu retten und für sie ein Wasser zu holen. In den Katakomben zapft der Welt langsamster Bedienerich und tatsächlich passiert mir, was mir noch nie in meiner Fan-Karriere geschehen ist, ich verpasse das deutsche 1:0; mein persönliches Opfer für Ellie. Schnell wieder hoch, zurück auf den Platz und mitfeiern. Wir erleben gemeinsam das 2:0, das zum Glück nicht mehr bedeutsame 2:1, schlagen mit den drei Reihen hinter uns stehenden Deutschlandfans aus Stuttgart ein und jubeln über den schwerfälligen Viertelfinaleinzug. Als Krönung treffen wir am Ausgang sogar noch einen Bekannten aus der Darmstädter Ecke.

Tiefenentspannt laufen wir zurück zum Einkaufscenter, wo auch schon Martha und Carlos wieder auf uns warten. Nicht genug, dass sie uns den Weg zum Stadion gewiesen haben. Sie laden uns auch noch ein im Landhaus von Carlos Eltern zu übernachten. Der heftige Nachtverkehr kann mich nicht mehr erschüttern, Deutschland ist im Viertelfinale. Auch die heftigen letzten 500m zum Landhaus bringen mich nicht mehr aus der Ruhe. Hätten wir nicht so viel positive Erfahrungen mit unseren Gastgebern gemacht, könnte man ernsthaft meinen wir werden auf dem einsamen, schlaglochübersäten Urwaldweg in einen Hinterhalt gelockt. Dem ist natürlich nicht so und so entschlummern wir kurz nach Mitternacht im herrlich weichen Landhausbett einem tollen, ereignisreichen Tag.

Datum: 30.06.2014(Tag 47) - Tachometerstand: 234 416km - gefahrene Kilometer: 3376km / davon Europa 610km / Südamerika 2766km - Ort: Sitio Belo (Brasilien)

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